Reisebericht 2015
Ein Erfahrungsbericht von Peter Seiringer
Dieses Jahr hatte ich wieder die Ehre, Bernhard auf seinem alljährlichen Bolivien-Besuch zu begleiten. Für mich war es das insgesamt sechste Mal in Südamerika, das vierte Mal im „Estado Plurinacional“. Ich fühle mich schon ein bisschen heimisch in Bolivien, das Land und die Leute sind mir sehr ans Herzen gewachsen.
Da ich nicht jeden einzelnen Tag des Aufenthaltes aus meiner Sicht erneut erläutern will – Das hat Bernhard ja schon ausführlich, sehr einfühlsam und mitreißend beschrieben – möchte ich gerne zwei Tage exemplarisch herausheben und meine Gedanken mit Ihnen dazu teilen.
Tag 1
Ich werde aufgeweckt, nicht nur durch Sonnenstrahlen, die in das kleine Zimmer, in dem ich übernachte, mir direkt ins Gesicht lachen, sondern auch durch bellende Hunde, einen krähenden Hahn, Vogelgezwitscher. Hin und wieder ein Moped, auf dem zwischen zwei und vier oder mehr Personen sitzen, ganze Familien, „sin luz, sin casco“ – „ohne Licht, ohne Helm“. Es ist 6:00 Uhr Früh, ich bin ausgeschlafen, einigermaßen. Zumindest mehr als gestern, als um 2:00 Uhr nachts begonnen wurde, nebenan ein Haus abzureißen. Mein Magen knurrt, mein Darm gibt Laute von sich, die ich in Europa noch nie wahrgenommen habe. Ich hoffe, er hat das 3x tägliche pollo in den letzten Tagen gut weggesteckt.
Heute ist mein Geburtstag, mein 26. Ich freu mich, Geburtstag zu haben, freu mich, in Bolivien sein zu dürfen. In diesem Moment denk ich aber nicht an meinen Geburtstag, sondern meinen Geburtsort. Durch die Erlebnisse in den letzten Tagen scheint mir der Ort, an dem man geboren wird, der ausschlaggebende Faktor für die Art und Weise zu sein, wie das restliche Leben gelebt werden darf. Ob man ein Leben im Luxus führen kann oder betteln auf die Straße gehen muss, ob man an einer Infektionskrankheit sterben muss oder nach ein paar Tagen wieder völlig gesund ist, hängt fast ausschließlich davon ab, wo man das Licht der Welt erblickt hat. Mir ist bewusst, dass jeder Mensch den seinen/ihren Anteil dazu beitragen und hart arbeiten muss, ein glückliches Leben zu führen, in dem man sich keine Sorgen um das morgige Abendessen zu machen braucht. Die Voraussetzungen hierfür müssen aber gegeben sein, und diese werden determiniert durch den Geburtsort.
Unfair, denke ich mir. Ich bin in Mitteleuropa geboren, Doña Cecilia in Bolivien. Ich bin gerade als Student um den halben Globus geflogen, Doña Cecilia arbeitet gerade in der prallen Sonne am Feld, um ihren 5 Kindern morgen Früh etwas Brot und Milch als Tagesration anbieten zu können.
Ich sitze ein bisschen in meinem Zimmer, lese und denke nach. Es ist halb acht Uhr Früh. Jetzt gibt’s Frühstück. Selbstgemachtes Brot, Butter, Tee, selbstgemachte Marmelade, die leider schon schlecht ist. Selbst hier in Cochabamba, auf mehr als 2500m Seehöhe, darf man Lebensmittel nicht zu lange draußen stehen lassen, weil sie sonst schnell schlecht werden. Kurz probiere ich nachzuzählen, wie viele der unzähligen Familien, die wir besucht haben, einen Kühlschrank zuhause haben. Spontan fällt mir keine einzige ein.
Um acht Uhr geht’s los. Jonathan holt uns mit seinem Taxi ab. Ich kenne ihn schon von letztem Mal, wir haben uns gut verstanden. Er ist ungefähr in meinem Alter, ehemaliger Schuhputzer auf dem Platz von Cochabamba, einer der ersten „Brillos“, lang bevor ich bei dem Projekt dabei war. Mit der Hilfe von Sr. Gundelinde und Bernhard hat er es geschafft, von der Straße wegzukommen und ein eigenständiges Leben zu führen. Er ist sehr fleißig, in einem Jahr mit seinem Architekturstudium fertig und verdient sich nebenbei etwas Taschengeld als Taxifahrer und Friseur. Wenn ich dran denke, was er und seine drei Brüder in ihrem Leben schon durchgemacht haben, bekomme ich eine Gänsehaut und fühle mich nicht wohl in meiner Haut und ihm unterlegen. Seine Geschichte überwältigt mich schlicht und einfach. Ich hatte das Glück, ohne etwas dazu beizutragen, in Europa geboren zu sein, kann auf eine schöne und geregelte Kindheit zurückblicken, in der ich alles hatte, was man sich nur wünschen kann. All das, was Jonathan und tausende andere hier nicht hatten bzw. haben. Aber er hat es geschafft und kann sehr stolz darauf sein.
Wir fahren zu den cleferos, den Kindern und Jugendlichen, die obdachlos sind, in einem Kanal wohnen und sich etwas Geld verdienen, indem sie an der roten Ampel Autoscheiben putzen. Mit den paar centavos kaufen sie Essen und „clefa“, Kleber zum Schnüffeln, von dem sie abhängig sind. Für „richtige“ Drogen reicht das Geld nicht. Es ist wichtig, in der Früh zu kommen, da sind die meisten ansprechbar und orientiert. Je weiter der Tag fortschreitet, desto mehr nimmt der Effekt des Schnüffelns überhand und die Kinder und Jugendlichen sind im Delirium, irgendwo gefangen zwischen bitterer Realität und imaginärer Idylle. Wenigstens vergessen sie dadurch täglich ihr ganzes Leid für ein paar Stunden, denk ich mir. Wir fahren zu dem Kanal, in dem sie wohnen, doch keiner ist da. Ich spring hinunter und schau unter die Brücke, unter der sie schlafen. Die Erinnerungen ans letzte Mal kommen hoch, es ist stickig, stinkt fast unerträglich nach Fäkalien und Urin, Fliegen und anderes Ungeziefer tummeln sich auf dem herumliegenden benutzten Tampons -bzw. Tüchern, die als solche benutzt wurden-, Klopapier und sonstigen Stoffresten, die als Decken dienen. Der Kanal ist vielleicht zwei Meter breit, die Brücke 1,50 m hoch. Ich muss mich stark bücken, um stehen zu können. Es ist kaum auszuhalten, nicht einmal für ein paar Minuten, alles juckt und beißt, die Schwüle erdrückt mich schier. Unfassbar wie die Kinder hier wohnen, essen und schlafen, im Dreck, in deren eigenen Ausscheidungen. Ich weine innerlich, bin wütend, frage mich, wie es so weit kommen kann. Wenn es einen lieben Gott, Allah, Buddha oder wie man es auch benennen mag, tatsächlich geben sollte, wie kann er so etwas zulassen? Tiefer geht es nicht mehr, denk ich mir. Da die Jugendlichen grade nicht hier sind, sondern wahrscheinlich am „arbeiten“, gehen wir in ein nahe liegendes Geschäft und kaufen ein paar Snacks und Cola ein, das wir im Anschluss verpackt unter ein Rohr in den Kanal klemmen, weg vom feuchten Boden, auf dem es die Hunde, Mäuse und andere Tiere schnell auffressen würden.
Ein paar Querstraßen weiter unten finden wir ein paar der Gruppe der cleferos. Sie kennen uns noch, ich war vor zwei Jahren hier, Bernhard schon öfters. Einige sind nicht ganz bei sich, reagieren nur verzögert auf Ansprache, sie liegen in der Sonne auf einer Verkehrsinsel, die kleine Kleberflasche in der Hand. Einige andere sind gerade am Essen ein paar Meter weiter. Sie sehen ungepflegt und dreckig aus, haben infizierte Wunden von Schlägereien oder vielleicht auch nur vom Fußballspielen, man weiß es nicht. Zwei von ihnen, mit ihren ca. 16-18 Jahren selbst noch Kinder, haben Anfang des Jahres ein Kind bekommen. Die kleine Maria Magdalena ist mittlerweile 11 Monate alt, hat große, strahlende Augen, dicke Wangen und ist unfassbar süß anzuschauen. Sie sieht glücklich aus, ist aufgeweckt und wirkt gesund. Jeder will sie halten, mit ihr spielen. Als ich sie im Arm halte, schaut sie mich verwundert an und grinst übers ganze Gesicht, ich schließe sie sofort ins Herz und will sie gar nicht mehr hergeben. Am liebsten würde ich sie mitnehmen. Es zerreißt mir fast das Herz, wenn ich ihr in die Augen sehe und mir bewusst mache, unter welchen Umständen sie auf die Welt gekommen ist und unter welchen Bedingungen sie aufwachsen muss. Dass sie vermutlich kaum eine Chance im Leben haben wird, will ich mir nicht eingestehen. Ich frage mich, was man hier machen kann, wie man so etwas verhindern kann, doch ich fühle mich gelähmt, uns sind förmlich die Hände gebunden. Es ist ein Teufelskreis, aus dem es nur schwer ist, zu entkommen. Manchmal nimmt das örtliche Jugendamt den cleferos die Kinder weg, doch ob es ihnen dann so viel besser geht, wage ich zu bezweifeln. Mit der Kleinen im Arm rede ich mit den anderen, sie sind vom Leben gezeichnet, obwohl sie kaum älter als 20 sind, manche wirken verlangsamt und nicht ganz adäquat. Die tägliche clefa, chronische Mangelernährung, der Alkohol zeigen ihre irreversiblen Folgen. Fast schon habe ich das Gefühl, mit verlorenen Seelen zu sprechen. Mehr als ihnen ein bisschen Essen zu geben, Zuneigung zu zeigen und Fröhlichkeit zu vermitteln, ist hier nicht möglich.
Viele Gedanken gehen mir durch den Kopf, dieser Kanal und dessen Kinder sind wohl das Schlimmste, was ich jemals gesehen habe und kaum zu verkraften.
Doch wir müssen weiter, es bleibt gerade nicht viel Zeit, nachzudenken und darüber zu sprechen. Es wartet schon eine bedürftige Familie auf unseren Besuch. Da ist zumindest was zu machen, da ist man nicht gezwungen, hilflos zuzuschauen, wie dein Gegenüber ins Verderben läuft, denk ich mir und steig ins Auto ein. An der nächsten Ampel putzt uns ein ca. 12-jähriger die Scheiben, mit eingefallenen, rot unterlaufenen Augen und bekommt etwas Geld von uns. Auf der Verkehrsinsel in der Mitte der Straße sind zehn weitere, ca. im gleichen Alter, ein paar liegen in der prallen Sonne, wirken weggetreten. An der nächsten Kreuzung das gleiche Bild. Es ist hoffnungslos.
Jonathan führt uns nach Quillacollo, einem Vorort von Cochabamba, einer 650.000-Einwohner-Stadt in der Mitte Boliviens, wo wir eine Familie besuchen wollen.
Beim Treffen gestern hat uns die Mutter im Beisein ihres ältesten Sohnes Miguel unter Tränen davon erzählt, dass sie ihren drei Kindern nicht mehr als etwas Brot mit Butter und eine Tasse Tee am Tag zu essen anbieten und ihre Miete laufend nicht zahlen kann, da sie ihr Mann verlassen hat und ihr Lohn, den sie in der Wäscherei verdient, bei weitem nicht für eine vierköpfige Familie ausreicht. Miguel sitzt daneben, schaut seine Mutter im Augenwinkel an und fängt selbst zu weinen an. Er ist alt genug, zu wissen und zu verstehen, welche Qualen seine Mutter täglich durchleidet. Man sieht ihm an, dass er mit ihr mitleidet, er ist spargeldürr, sichtlich unterernährt und wirkt sehr unglücklich. Man spürt die Verzweiflung der Mutter, die Traurigkeit des Sohnes im Raum. Wir nehmen sie beide in den Arm, weinen innerlich mit ihnen mit. Es ist kaum auszuhalten, eine Tragödie, und doch wissen wir, dass es hunderttausenden genauso oder noch viel schlimmer geht. Vor mir steht ein leeres Glas, das ich vorher ausgetrunken habe. Ein Tropfen Wasser ist noch drin. Ohne zu fragen, nimmt Miguel das Glas und schüttelt sich den letzten Tropfen Wasser in seinen Mund. Ich frag ihn, ob er durstig sei und etwas verlegen antwortet er mit einem Kopfnicken. Ich fülle das Glas mit einem Birnenwasser -ein Getränk, das in Bolivien gerade „in“ zu sein scheint- und stelle es ihm hin. In Rekordzeit kippt er es runter. Das ganze gleich danach noch einmal. Und noch einmal. Nach dem dritten Glas in einer halben Minute scheint sein akuter Durst erst einmal gestillt zu sein. Die beiden wirken sehr gepflegt, riechen gut, tragen sauberes und schönes Gewand, die Mutter ist hübsch. Kaum zu glauben, unter welchen Bedingungen sie leben. Vielleicht erklärt ihr Beruf als Wäscherin ihre schönen und sauberen Kleider, das ist hier nämlich keine Selbstverständlichkeit und ist, wie ich später erfahren habe, auch Bernhard gleich aufgefallen.
Am gleichen Tag noch gehen wir mit den beiden und ca. 20 anderen Jugendlichen bzw. jungen Erwachsenen essen, alle haben eine unfassbare Geschichte hinter sich, unglaubliche Dinge durchlebt, doch haben es alle geschafft, rauszukommen. Auch wenn das nur ein Tropfen auf dem heißen Stein ist, habe ich großen Respekt für den Verdienst von Sr. Gundelinde, Bernhard und allen Beteiligten. Im „Globo“, einem typisch bolivianischen Restaurant angekommen, nehmen wir auf einem großen, zusammengeschobenen Tisch Platz. Die farbigen Plastikstühle, die Speisekarte mit Gerichten, die die 3000 kcal-Grenze scheinbar nicht unterschreiten dürfen, überdimensionierte Schokoladekuchen, riesige Eisportionen mit Schlagobersbergen, all das ist so typisch für hier und lässt die Herzen der Anwesenden sichtlich höher schlagen – Das ist etwas ganz Besonderes und gibt’s schließlich nur einmal im Jahr, wenn „Dr. Bernardo“ hier ist und einlädt. Die Mutter von Miguel wird etwas blass und kaltschweißig, muss sich hinsetzen und ist mit der Gesamtsituation überfordert. Sie war noch nie in so einem „Restaurant“, all die Leute, Kellner, spielenden Kinder, das viele Essen ist ihr im ersten Moment zu viel. Ich setze mich mit ihr in ein Eck, organisiere ein Glas Wasser und etwas Zucker. Auch sie hat bis auf das Stück Brot und die Tasse Tee am Morgen -mittlerweile ist es ca. 18 Uhr- nichts gegessen. Ein paar Augenblicke später, nachdem die neuen Eindrücke etwas verdaut sind, geht es aber schon wieder besser und sie setzt sich wieder zu den anderen an den Tisch. Jetzt kommt der Kellner, alle bestellen galaktisch-überdimensionierte Portionen, als ob es seit Wochen nichts Richtiges mehr zum Essen gegeben hätte. Bei vielen ist dies wohl auch der Fall. Nachdem das Essen kommt, schau ich zu Miguel hinüber. Er hat ein riesiges Gericht mit pollo, Würstel, Speck, Pommes Frites, Reis, Zwiebel, Paprika und einer Sauce vor sich stehen. Er nimmt den Salzstreuer und leert ein Drittel davon über sein Essen – mit Absicht. Ich traue meinen Augen nicht und denk mir, dass man das nicht mehr essen kann. 15 min später ist der Teller leer und Miguel lacht mich zufrieden an. Jetzt verstehe ich, was man meint, wenn man von Salzhunger spricht.
Mittlerweile ist es 10 Uhr vormittags, wir sind in Quillacollo angekommen, beim „Haus“ der Familie von Miguel, das eigentlich nur ein kleines Zimmer ist, in dem sie zu viert wohnen. Wir betreten den Raum, die beiden jüngeren Kinder, Sarita, 11, und Manuel, 13, schlafen noch, gemeinsam auf einem 90 cm-Bett. Darin schläft normalerweise auch noch die Mutter. Miguel liegt zusammengekauert auf einer „Matratze“ aus Stroh am kühlen Betonboden. Als ich mich hinknie, um ihm hallo zu sagen, tut es an meinen Knien weh. Kaum vorzustellen, dass er hier täglich schläft. Dann dreh ich mich um und sehe die beiden kleineren Kinder auf dem Bett. Kaum vorzustellen, darin täglich zu dritt zu schlafen. Ich sehe mich um, es gibt keinen Tisch, keine Couch, keine Stühle. Kaum vorzustellen, hier zu leben. Am Anfang warte ich noch, dass uns die Mutter ein weiteres Zimmer zeigt, doch das ist alles. Das „Bad“ ist im Hof und wird mit den anderen Parteien geteilt. Küche gibt es keine. Im Eck stehen ein paar große Plastiksackerl mit Gewand, im anderen Eck ein Regal mit einem kleinen Fernseher. An der Wand auf der anderen Seite des Zimmers ist ein Tor, es sieht aus wie ein Garagentor, das aber auf Nachfrage immer verschlossen bleibt. Wenn es stark regnet, was öfter der Fall ist, rinnt das Wasser unter dem Tor ins Zimmer.
Die Mutter zieht eine Doppelherdplatte, die man an eine Gasflasche anhängen kann, unter dem Bett heraus. Das ist ihre „Küche“. Gekocht hat sie aber schon lange nicht mehr, das Geld reicht nicht für’s Gas.
Jetzt wachen auch die Kinder auf, kennen sich anfangs nicht so recht aus, aber freuen sich dann sehr, uns zu sehen. Sarita und Manuel wirken anders als Miguel, etwas besser genährt, nicht so traurig, sehr intelligent und überlegt. Vielleicht sind sie noch zu jung, die Tragweite ihrer Situation einzuschätzen, denk ich mir. Wir reden mit ihnen und sie zeigen uns ihre Schulhefte. „Matematica“ ist das Lieblingsfach der beiden und die Noten -ausschließlich Einser- sprechen für sich. Die Familie müssen wir unbedingt unterstützen, die Kinder haben eine Chance, wenn man sie fördert, denk ich mir. Jetzt gehen wir aber erst einmal Essen einkaufen, ein paar Süßigkeiten, Cola, Brot. Sie freuen sich, zeigen uns dann noch Familien-Fotoalben. Bernhard hat außerdem eine Überraschung für Miguel, ein neues Handy. Am Vortag hat er uns nämlich verraten, dass er das alte Handy, das einzige in der Familie, verloren hat und so gern ein neues hätte. Die vier können es kaum glauben, als ihnen Bernhard das neue Teil schenkt und bedanken sich überschwänglich.
Wir würden gern noch ein bisschen bleiben, doch das Mittagessen wartet, wir müssen auch noch ein paar Kleinigkeiten besprechen, bevor es zum Flughafen geht. Wir verabschieden uns von der Familie, die Mutter weint, Miguel auch, drückt uns und will gar nicht mehr loslassen. Er vermisst es wohl, einen Vater zu haben, denk ich mir. Er drückt so fest und innig, dass man das ungestillte Verlangen nach Liebe, Zuneigung und einer Perspektive förmlich anzugreifen vermag. Solche Momente geben mir selbst auch Kraft und Motivation, weiterzumachen und bestätigen die Wichtigkeit solcher Besuche.
Jetzt geht’s aber weiter, das Mittagessen ist schon bereit. Wir essen gemeinsam mit den Schwestern, bitten sie, ein Bett und einen Tisch für die Familie zu organisieren und in nächster Zeit einen kleinen Grund zu suchen, auf dem wir ein neues Zuhause für die vier bauen wollen. Dann fahren wir los in Richtung Flughafen. Dort angekommen, haben Bernhard und ich noch etwas Zeit und setzen uns in ein Café, um zu besprechen, mit wie viel wir die anderen bedürftigen Familien bzw. Studenten monatlich unterstützen können. 20€ für die Miete von Álvaro, 50€ für Teresas Studiengebühren, 15€ für Schulmaterialen von Jorge. Dabei stinkt es nach Klo, ist heiß und feucht.
Der Flug in Richtung Sucre ist kurz und sehr turbulent, wir werden richtig durch die Gegend gebeutelt. Dort angekommen, werden wir schon von Amelia und Teresa erwartet. Sie bringen uns in ihr Haus, wir essen einen kleinen Snack, trinken etwas Tee. Amelia bietet uns an, eine von ihrer Gemeinschaft geführte Krankenschwesternschule ums Eck zu zeigen. Bernhard ist nicht so begeistert, der Tag ist nicht mehr der Jüngste und die Eindrücke sind stark und ermüdend. Doch wir lassen uns überreden und schauen uns die Einrichtung an.
Jetzt brauchen wir aber etwas Zeit für uns, um das Erlebte zu verdauen und fahren auf die Anhöhe ins Kolpinghaus. Bernhard hat mir schon des Öfteren begeistert davon erzählt und ich bin sehr gespannt. Dort angekommen und von einem an seiner Arbeit relativ desinteressiert uns in Empfang nehmenden Rezeptionisten (das ist übrigens keine Seltenheit hier) beziehen wir unsere Zimmer. Die Sonne steht aber schon tief und der Himmel leuchtet orange, sodass wir uns entschließen, den Sonnenuntergang gleich auf der Dachterrasse anzuschauen. Eine unglaubliche Stimmung, alle Rot-, Blau- und Orangetöne, die die Natur zu bieten hat, werden uns hier präsentiert. Die Luft ist frisch, nicht so drückend und schwül wie in Santa Cruz, es weht ein leichter Wind und ist dennoch nicht zu kühl. Ein wunderschöner und würdiger Abend für einen ereignisreichen und an Erlebnissen und Eindrücken vollgefüllten Geburtstag. Ich bin schon etwas müde von den letzten Tagen, dem ganzen Gesehenen, den Begegnungen, den einzelnen Geschichten und Schicksalen, doch der Austausch mit Bernhard, die Gedanken an die vielen strahlenden Kinder und solche Momente wie dieses Abendrot geben mir wieder Kraft.
Als es schon dunkel ist, gehen wir einen Stock tiefer zum Essen und stoßen auf meinen Geburtstag an. Ich bin glücklich mit meinem Bier, Bernhard trinkt Wein. Weiß natürlich, doch leider gibt es kein Eiswasser mehr, nach dem Bernhard fragt. Ich blicke über seine Schulter und sehe auf den Nebentischen, wie gekonnt der eisgekühlte Rotwein aus den Eiskübeln gehoben und kennerhaft genossen wird. Der Weiße bleibt auf Zimmertemperatur. Bernhard erklärt mir noch etwas zur Weinkultur Boliviens, doch scheint nicht sehr davon überzeugt zu sein.
Wir gehen noch in die Stadt auf ein Bier, doch es ist nicht viel los und fahren mit einem Taxifahrer nachhause, welcher sich während der Fahrt in einem zehnminütigen Monolog lautstark über Evo, den bolivianischen Präsidenten, auslässt.
Ich komm erst jetzt dazu, die Geburtstagsnachrichten durchzulesen und anzuhören und freue mich, dass meine Freunde und Familie, weit weg von hier an mich gedacht haben. Es war ein schöner Geburtstag, einer, den ich so schnell nicht vergessen werde. Wohl einer der schönsten, die ich jemals hatte.
Tag 2
Nach ein paar Stunden Schlaf sind meine Gedanken wieder so weit geordnet, dass sie nicht meinen Kopf zu sprengen scheinen, wie das gestern der Fall war. Der nächste Programmpunkt wartet nämlich schon. Nach einem kleinen Frühstück -meinem Magen ist in der Früh immer nicht so viel zuzumuten- werden wir um 8:15 Uhr von Amelia abgeholt und fahren nach Yotala, einem kleinen Dorf ca. 20 km südlich von Sucre. Wir haben dort den Zubau von zwei Klassenzimmern einer Schule finanziert, die aus allen Nähten platzt. Längerfristig sollen sechs weitere Klassenräume entstehen, sodass Unter- und Oberstufe in getrennten Gebäuden untergebracht werden können. Aber alles nach der Reihe.
Wir kommen an und werden von der Schuldirektorin und ein paar Lehrern begrüßt. Ein paar Kinder tollen herum, es sind ja bald Ferien. Bernhard und ich denken uns, dass wir den noch nicht ganz fertiggestellten Bau anschauen und dann wieder fahren. Als wir aber den Innenhof der Schule betreten, trauen wir unseren Augen nicht. Alle Schüler der Schule, inklusive Personal und Eltern stehen versammelt um den Sportplatz und begrüßen uns im Chor „Bienvenidos Dr. Bernardo y Piter“. Das ist übrigens eine der zahlreichen Schreibweisen meines Names hier in Bolivien, „Piter“, „Pitter“, „Pita“, alles ist schon dabei gewesen. Wir müssen auf den Stühlen, die in der Mitte für uns bereitgestellt wurden, Platz nehmen. Jetzt gibt es einige Ansprachen, einer der Lehrer spielt ein Stück auf seiner Mundharmonika, die Kinder führen in fein genähten und sehr schönen Kostümen traditionelle Tänze auf. Ich habe schon ein paar Aufführungen in Bolivien gesehen, doch selten war eine so edel und gut vorbereitet wie diese. Wir müssen im Anschluss auch noch kurz etwas sagen, wir bedanken uns für den überwältigenden Willkommensgruß und weisen darauf hin, dass wir im Namen des ganzen Vereins hier sind, dass Sie, als Spender in Österreich, Italien, Deutschland, den Zubau möglich gemacht haben.
Als ich mir denke, dass die Aufführung zu Ende ist, stehe ich auf, Bernhard und einige andere auch. Doch da ergreift der Moderator, einer der Lehrer, wieder das Wort und sagt, dass wir eine Kleinigkeit nicht vergessen dürften. Nach ein paar netten Worten singen alle Anwesenden, einige Hundert an der Zahl, ein Geburtstagsständchen für mich, für „Piter“, im Anschluss muss ich vor den Augen aller Anwesenden traditionelle bolivianische Tänze tanzen. Meine Tanzpartnerin führt mich, ich stell mich glaub ich etwas ungeschickt an, kann wirklich nicht gut tanzen, aber mit ein bisschen improvisieren geht das schon. Zumindest klatschen die Leute im Takt und sind fröhlich. Dass der ein oder andere Grinser meinem Tanzstil gilt, kann ich ihnen wohl nicht übel nehmen.
Nun ist es aber endlich soweit und wir schauen uns den Neubau an. Er ist zu ca. 80% fertig und sieht sehr gut und robust aus. Alle Verantwortlichen sind anwesend, der Architekt, der Ingenieur, der Bauleiter. Neben dem Gebäude ist viel Platz, ein sehr schöner Grund für die geplanten weiteren sechs Klassenräume. Bernhard und ich tauschen uns kurz aus, sind beide sehr positiv beeindruckt von dem Bau. Da bekommt man Lust auf mehr. Bei einem Snack im Anschluss besprechen wir mit den Verantwortlichen den Kostenvoranschlag für den geplanten Zubau. Ich nehme die Pläne und Dokumente mit, wir werden das gut überlegen und zuhause im Vorstand besprechen und abstimmen. Die bisherige Investition hat sich aber sicher gelohnt. Vielen Dank für Ihre zahlreichen Spenden, durch die der Bau möglich geworden ist!
Jetzt geht’s aber schon wieder weiter. Wir fahren zu einer Landwirtschaftsschule in der Nähe, einem riesigen Areal, an der junge Erwachsene aus umliegenden Dörfern eine Lehre machen können. Viele der Absolventen kommen aus sehr schwierigen Verhältnissen und haben in der Schule einen Ort gefunden, an dem sie aufgefangen werden und der ihnen durch den Abschluss, den sie erhalten, eine sichere Arbeitsstelle in der Zukunft verschafft. Ein sehr nachhaltiges und beeindruckendes Projekt, das zum großen Teil von einem Privatspender aus Deutschland finanziert wurde.
Wir besichtigen das Gelände, unter anderem die lechería, die Kuh-, Hühner- und Schweineställe und essen im Anschluss zusammen Mittag – zur Abwechslung gibt’s pollo. Ich hab Hunger und esse sehr viel, „volles Risiko“ sozusagen, wie Bernhard und ich das immer nennen, und hoffe, dass mir mein Magen-Darmtrakt das verzeiht. Aber es geht gut.
Da die Zeit drängt, müssen wir schon wieder los und werden zurück nach Sucre gefahren, wo wir 15 Minuten Zeit haben, uns auszurasten. Dann geht’s weiter zum Flughafen.
Auf dem Flug nach Santa Cruz, welcher deutlich entspannter ist als der gestrige nach Sucre, besprechen wir das Erlebte und tauschen unsere Gedanken aus. Es tut gut, zu zweit am Weg zu sein, weil man vieles teilen kann.
Nach einer halben Stunde landet der Flieger aber schon wieder und es geht weiter. Es ist ja erst 18 Uhr. Wir werden erwartet, die Schwestern wollen sich „kurz“ von mir verabschieden. Um 19 Uhr sollten wir im Konvent sein, das heißt schnell ein Taxi vom Flughafen ins Kolpinghaus, die Sachen ins Zimmer, eine Dusche und weiter geht’s.
Im Konvent angekommen begrüßt uns Hna. Rosa Maria. Es ist ruhig, alles ist dunkel. Auf einmal geht das Licht an und ca. 30 Jugendliche, die von uns und Ihnen unterstützt werden, Lehrer und Schwestern sind da und binden mir eine Krawatte um, setzen mir einen Hut auf, beides selbstgebastelt aus Karton, und dann wird ein Geburtstagsständchen gesungen. Jetzt krieg ich zahlreiche Geschenke, von einer Haube über einen Pullover bis hin zu einer Tasche und einer mit Foto versehener Kaffeetasse ist alles dabei. Ich stehe in der Mitte und packe die Geschenke aus, alle schauen mir zu. Jetzt gibt’s Kuchen, nicht einen, sondern drei verschiedene, der eine mit mehr Schokolade und Schlagobers als der andere. Ich muss in den Kuchen mit meinem Gesicht tauchen, das ist so Tradition in Bolivien. Zum Allgemeinwohl nehme ich aber nur einen großen Bissen, sodass das ganze Schlagobers um meinen Mund verschmiert ist – Wäre ich mit dem Gesicht eingetaucht, würde der Kuchen jetzt versalzen sein, von dem ganzen Schweiß, der mir im Gesicht steht. Es hat immerhin ca. 30 Grad, ist schwül, ich hab meine neuen Sachen an, einen Winterpullover, eine Haube. Wir genießen den Kuchen und anschließend wird getanzt. Besser gesagt, alle sitzen im Kreis und ich muss mit jeder weiblichen Person, die anwesend ist, einzeln tanzen, während alle anderen dabei zuschauen. Mit jeder einen anderen für Bolivien typischen Tanz, von denen ich keinen einzigen beherrsche. Aber mittlerweile hab ich ja schon etwas Routine, mich bei so was nicht komplett zu blamieren. Denjenigen, die das Tanzen wirklich können, ist es aber schon anzusehen, dass sie bei meinem Anblick etwas leiden – und das kann ich auch verstehen. Ich werde zunehmend müder, doch die Jugendlichen wollen nicht aufhören, ich muss weitertanzen, die nächste, dann die zweite Runde, dann noch einmal. Aus der kurzen Verabschiedung wird ein richtiges Geburtstagsfest, die Jugendlichen genießen es sichtlich sehr. Der kleine Eduardo sagt mir, dass er es so toll findet, hier mit der Gruppe zu sein, Joshua sagt mir, dass er mich vermissen wird und drückt mich. Obwohl ich fast nicht mehr kann, geben mir die kurzen Gespräche wieder Kraft und Motivation und ich halte noch ein bisschen durch. Als ich wirklich nicht mehr tanzen kann und eine kurze Pause brauche, verabschieden sich alle von mir. Es ist ein bisschen traurig, seh ich sie doch alle wieder mindestens ein Jahr lang nicht. Doch an so etwas kann ich jetzt nicht denken, es geht schließlich gleich weiter, wir werden von Dr. Arnolfo erwartet. Er steht seit geraumer Zeit draußen, um uns abzuholen.
Mit ca. 1 ½-stündiger Verspätung, um 21:30 Uhr, fahren wir los zum Haus von Dr. Juan, der uns heute zu einem Grillabend bei ihm eingeladen hat. Die Zeit hat einen anderen Stellenwert hier, eine solche Verspätung ist komplett normal, man muss fast schon sagen „üblich“. „Hora boliviana“ nennen das die Leute hier. Wir sind mittlerweile auch schon nach dieser bolivianischen Zeit am Weg. Ein wenig schlechtes Gewissen hab ich aber schon, dass wir die anderen so lange warten haben lassen. Erst einmal angekommen, setzen wir uns auf die Terrasse und stoßen zum wiederholten Male auf meinen Geburtstag an. Das Essen dauert ohnehin noch eine Stunde und es kommt noch ein weiterer Arzt. Wir reden über die Zeit, als ich hier in Bolivien zur Famulatur war und über den Sommer, als Dr. Juan und Dr. Arnolfo in Österreich waren. Meine Müdigkeit ist verflogen, es gibt unheimlich gutes Fleisch vom Grill, ein Salatbuffet, Kartoffeln und alles, was das Herz sonst noch so begehrt. Auch das Bier schmeckt gut und der Fernet im Anschluss sowieso. Es tut gut, beisammen zu sitzen, gut zu essen, die erlebten Dinge der letzten Wochen für ein paar Stunden auszublenden, nicht drüber nachdenken zu müssen.
Irgendwann, deutlich nach Mitternacht, müssen wir aber fahren, die Ärzte müssen morgen arbeiten, ich muss um halb 7 aufstehen, um rechtzeitig meinen Rückflug zu erwischen.
Ich freu mich schon wieder auf zuhause, es war eine sehr intensive, ereignisreiche und unterm Strich positive Zeit, mit vielen traurigen, aber auch fröhlichen Momenten. Die zahlreichen Geschichten gehen mir durch den Kopf und wieder die Frage, warum ich auserwählt wurde, jetzt in mein schönes Zuhause in Mitteleuropa, fern von Armut und Elend, zurückkehren zu dürfen, während das Leben der Menschen vor Ort, die wir getroffen haben, und all der anderen, denen es genauso geht, täglich so weiter läuft. Das tägliche Sorgen um die Kinder, die Ungewissheit, ob das Geld nächstes Monat für die Miete und das Essen reicht, das alles hat für sie kein Ende. Arbeiten gehen zu müssen, einzig und allein um seine Miete zu bezahlen und das Essen für seine Familie auf den Tisch stellen zu können, ist für mich schlicht und einfach unvorstellbar. Sich Geld anzusparen, um ein paar Tage auf Urlaub zu fahren, etwas mit seinen Kindern unternehmen zu können, sich etwas Schönes in der Stadt zu kaufen, neue Schuhe oder einen neuen Pullover, gibt es nicht.
Bald werden auch meine Gedanken wieder zuhause angekommen sein, ich werde mich damit beschäftigen, wo ich das nächste Wochenende hinfahre, ob der Schnee reicht, Schifahren zu gehen und welche Laufschuhe ich mir kaufe, wenn ich neue brauche. Noch aber ist mein Kopf, und vor allem mein Herz, in Bolivien und ein Teil davon wird auch sicher dort bleiben, für immer. Und das ist auch gut so.
An vielen Tagen in Bolivien, an denen wir Zeit mit den Jugendlichen und Familien verbringen, ohne aktiv etwas zu machen wie neue große Projekte zu organisieren, über Grundstückspreise zu verhandeln oder Neubauten einzuweihen, denk ich mir, dass zu wenig weitergeht, wir mehr machen müssten, eine Verpflichtung und Verantwortung uns selbst und nicht zuletzt Ihnen als Spenderinnen und Spendern gegenüber haben. Doch mit der Zeit wird mir immer mehr bewusst, dass genau diese einzelnen Begegnungen, das Cola mit Angel vor seinem Haus, die Umarmung mit Ceclia in der Schule, die Unterhaltung mit Don Raúl in seinem Laden, unglaublich wichtig sind und die Menschen glücklich macht. Die Jugendlichen, die durch das Projekt unterstützt werden, bekommen nicht nur ein paar Bolivianos im Monat, mit denen sie sich Schulmaterialien, Essen und Gewand kaufen, sondern sind dadurch Teil einer Gemeinschaft, einer Familie, in der man immer ein offenes Ohr für sie hat, ihnen zuhört und sie schätzt. Noch nie habe ich ein so großes Bedürfnis an Liebe und Zuneigung gespürt, wie dies von diesen Jugendlichen ausgeht, von denen die meisten ohne Vater, manche ohne Mutter, teils unter schwierigsten Bedingungen mit häuslicher Gewalt, Alkoholexzessen und Vergewaltigungen von älteren Geschwistern, aufwachsen mussten. Ihnen kann durch ein schlichtes Lächeln und eine Umarmung schon unheimlich geholfen werden. Durch die Gruppe und die regelmäßigen Treffen hat es das Projekt Brillos, allen voran Bernhard, ohne den das Ganze nicht existieren würde, geschafft, ihnen einen Ort der Zuflucht zu verschaffen, zu dem sie sich zugehörig fühlen, mit dem sie sich identifizieren können. Das ist mindestens genauso wichtig, wie gespendetes Geld, das in den Bau von Kindergärten und Schulen fließt. Es ist unerlässlich, die örtliche Bevölkerung nicht nur finanziell, sondern auch mental und gesellschaftlich zu unterstützen, ihnen ein Zugehörigkeitsgefühl zu vermitteln und zu zeigen, dass es jemanden gibt, der sie mag und schätzt.
Oft denke ich mir, ob man wirklich um die halbe Welt fliegen muss, um zu helfen und etwas zu tun, dass unsere Welt ein klein bisschen besser wird. Die Antwort heißt definitiv „nein“. Mir ist bewusst, dass es vor allem in Zeiten wie diesen auch bei uns viel Armut gibt, viel Ungerechtigkeit und viel Handlungsbedarf besteht. Die Bilder von gekenterten überladenen Schiffen auf dem Mittelmeer, vom Hauptbahnhof meiner Wahlheimat München im September 2015 oder brennenden Flüchtlingsheimen sprechen für sich. „Gibt es bei uns denn keine Armut?“, „Bleib doch hier und spende das Geld des Fluges an eine Hilfsorganisation!“, hab ich schon öfters von kritischen Stimmen gehört, die wissen, dass ich mich für Bolivien einsetze. Das mag alles stimmen und ich könnte es genauso gut machen. Die ganze Welt zu verbessern und zu verändern, ist aber schlichtweg utopisch und absolut unmöglich. Es kann nur jeder einen winzig kleinen Teil dazu beitragen, wozu er/sie in meinen Augen auch verpflichtet ist. In meinem Fall hat sich mein Engagement für Bolivien durch meine Begeisterung für den südamerikanischen Kontinent, die Leidenschaft und Lebhaftigkeit der Lateinamerikaner und –innen, und nicht zuletzt durch das Vertrauen und die Freundschaft mit Bernhard mehr oder weniger zufällig ergeben. Ich weiß, dass es zahlreiche Länder gibt, denen es schlechter geht als Bolivien, zahlreiche Familien noch viel schlimmer dran sind, als jene von Miguel. Doch jetzt, nachdem wir diese Familie mit einem kleinen Taschengeld monatlich unterstützen und er mir gestern Fotos von seinem neuen Bett und einem Grund, auf dem ein neues Haus für sie entstehen soll geschickt hat, weiß ich, dass es eine Familie weniger auf der Welt gibt, die täglich ums Überleben kämpfen muss. Eine Mutter weniger, die sich täglich in den Schlaf weint und zugleich versucht, ein gutes Vorbild für ihre heranwachsenden, intelligenten Kinder zu sein.
Jeder Mensch sollte für sich selbst entscheiden, wie er einen kleinen Dienst an unserer Gesellschaft leisten kann. Ob das durch eine 5€-Spende an die UNICEF, einer Nachtschicht in der Essensausgabe für die ankommenden Flüchtlinge in der Bahnhofshalle, oder ein Hilfsprojekt in Bolivien ist, bleibt jedem selbst überlassen. Wichtig ist nur, DASS man etwas tut.
Peter Seiringer
*Alle Namen wurden aus persönlichen Gründen abgeändert.